Unerschrocken subjektiv: der Filmemacher Johan van der Keuken

Einführung zu Van der Keukens Film „Ferien eines Filmemachers“

»Der Filmemacher ist nicht reflexiv, sondern Schöpfer“

Globale, vielschichtig komplexe, klanglich wie visuell experimentelle Kompositionen in der Auseinandersetzung mit einer sich beständig verändernden Welt zeichnen das Werk des niederländischen Filmemachers, Fotografen und Künstlers Johan van der Keuken aus. Er war ein rastloser Schaffender und Umhergetriebener, ein scharfer Beobachter seiner Umwelt, ein engagierter Kommentator des Weltgeschehens, ein Kritiker der bestehenden Ordnung. Dabei vermischte er globale und persönliche, fast intime Sichtweisen, ignorierte künstliche Barrieren zwischen den verschiedenen Kunstformen, suchte die Momente, wo das fotografische Bild sich bewegt und montierte seine Filme wie Jazz-Improvisationen. Seine Faszination, die Welt durch das Objektiv zu sehen, hat ihn keinen Moment losgelassen. Auch in den Ferien nicht. Als „en plus“ zeigen wir das 1974 entstandene Filmessay „Vakantie van de Filmer, (Ferien eines Filmemachers)“. Einen Film, in dem sich Johan van der Keuken dem normativen Zugriff des politisch korrekten Film-denkens der damaligen Zeit widersetzt und wie Chris Marker in seinen Essayfilmen auch, die Zeitlichkeit technischer Bilder hinterfragt, indem er sie gegen die Gesetze zeitlicher Chronologie ausspielt. Johan van der Keuken erinnert sich an den Jazz-Musiker Ben Webster, dem er seinen 1967 kurzen Film Big Ben gewidmet hat und der im Jahr zuvor gestorben ist. Wir sehen van der Keukens Frau Noshs Bauch während und nach ihrer Schwangerschaft, dann sehen wir das Kind, das drei Jahre zuvor in ihrem Bauch war und nun im Urlaub in Südfrankreich, um mit einem kranken älteren Mann zu spielen, der sich am Ende seines Lebens befindet. Schon mit dem Foto seines Großvaters als Ausgangspunkt reflektiert van der Keuken die Grundlagen der Fotografie und des Films. "Ein Foto ist eine Erinnerung. Ich erinnere mich an das, was ich darauf sehe. Aber der Film erinnert sich an nichts. Ein Film ereignet sich immer in der Gegenwart.“ Somit ist „Ferien eines Filmemachers“ ein Film über Zeit und Erinnerung, über die Vergangenheit, das Leben und den Tod.

»Der Filmemacher ist nicht reflexiv, sondern Schöpfer“

Filme, sagte er, seien so etwas wie Totenbücher. Johan van der Keuken dachte dabei vielleicht auch ans Tibetische Totenbuch und nicht nur an den unter Kritikern schicken, viel zu oft zitierten Satz von Jean-Luc Godard, dass Filmen heiße, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Der Filmemacher, Fotograf und Essayist, 1938 in seiner Heimatstadt Amsterdam geboren, hatte immer ein Auge auf das, was Menschen schleichend oder auch auf einen Schlag vernichtet: Armut, Hunger, Krieg. Mit seiner Handkamera bereiste er die Welt und entdeckte ein ums andere Mal, wie verschont man in Europa lebt. Er hielt aber auch früh fest, was in seiner Familie geschah: mit seinen Kindern, seiner Frau. Poesie und Tragödie waren Nachbarn in seinen Filmen - auch wenn er beiden die gleiche strenge, ungerührte Form gab.

„Ich finde es faszinierend, in einer freien Form meine Filme zu montieren, aber eine klassische Form muss dennoch zugrunde liegen. Das Paradoxon ist, dass, wenn Sie eine freie Komposition machen wollen, müssen Sie in einer (noch) strengeren Weise vorgehen, als Sie es in einem herkömmlichen Film tun würden. Sie müssen plausibel machen, bestimmte Dinge zu vermitteln, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Es ist dann meine Aufgabe zu beweisen, dass sie für die Dauer des Films etwas miteinander zu tun haben.“ Van der Keuken machte Filme seit den frühen sechziger Jahren, kurze und längere, über blinde Kinder und Jazzmusiker, über Maler und über seine eigenen Ferienerlebnisse. Aber so genau läßt sich das alles nicht trennen. Immer wieder tauchen Bilder aus älteren Filmen in späteren auf, drängen sich, als dissonante Fragmente, etwa Aufnahmen einer sonnendurchfluteten spanischen Landschaft in das Porträt eines blinden Jungen (in seinem Film „Blind Child“). Es herrscht keine Ordnung in der Bilder- und Tonwelt des Johan van der Keuken, er montiert Kontraste, liebt kontrapunktische Wirkungen wie in der Musik. Beeinflusst von niederländischen realistischen Fotografen und Filmemachern wie Joris Ivens, durch existenzielle und östliche Philosophien, durch abstrakte Malerei und Jazz, hat van der Keuken einen einzigartigen, unvergesslichen Stil entwickelt, der politische und avantgardistische Filmtraditionen verbindet und sich dem subjektiven Ausdruck und der objektiven Erklärung widmet . Der Zuschauer wird nicht mit einem fertigen Produkt konfrontiert, sondern erlebt den Arbeitsprozess des Filmemachers mit, auch seine Skrupel und seine Zweifel. Er verstand seine Filmarbeit als eine Bedingung, als état oder als Zustand des Seins, als etwas, das der einfachen Definition entgeht. Es ist ein Raum der Erfahrung, eine Art, in der Welt zu sein.

Van der Keuken, der stets auch sein eigener Kameramann war, der immer mit sehr kleinen Teams arbeitete, schätzte experimentelle Arbeitsformen: „Für mich ist die Kamera eine Art force de frappe, mit welcher man das Reale anpackt ... Die Kamera in der Hand zu haben, das ist für mich ein bißchen wie Boxen. Und für mich schien es logisch, auch mit der Kamera in der Hand zu sprechen, so daß die Kamera viel aktiver wird und wirkt. Wenn der Interviewer und der Kameramann dieselbe Person sind, schaut die gefilmte Person direkt in die Kamera. Es ist frontal, es ist direkt.“ So liefert sich der Filmemacher nicht einem riesigen Apparat aus, dessen Produktionsmethoden eine freie, assoziative Arbeit nicht zulassen, sondern wird zum Partisanen seiner Subjektivität.

In seinem Film „Vakanti van de Filmer/ Ferien eines Filmemachers”, den wir gleich sehen werden, stellt van der Keuken von Anfang an die Frage der Zeitlichkeit (technischer Bilder). Fotografie, Film, Schallplatte und Konzertmitschnitt, Zeitungsbilder und abgeblätterte Plakate: die Schichten der Aufzeichnungen von Licht und Klang werden in ihren Formen, Erinnerung und Geschichtlichkeit auf die Probe gestellt: Van der Keuken nimmt eigene Bilder und Töne früherer Filme wieder auf, aber verändert. Zu den Materialien, die van der Keuken in seinen Film „Ferien eines Filmemachers“ montiert, gehören Familienbilder, Urlaubsaufnahmen, Privates, mit der Bolex Gefilmtes, Bilder, die aber deutlich als Aufnahmen politischer Prozesse gekennzeichnet sind: Wenn Nosh van der Keuken, Tonfrau vieler Filme, sich mit den Bauern über die Zeit der Résistance unterhält, wenn die Nachbarin in einer Einstellung gezeigt wird, während wir von der Tonspur geflüstert hören, dass ihr Mann Kollaborateur war, kollaborieren wir selber mit dem Film, der sich immer nur jetzt ereignet.

Das Photo (seines Großvaters, mit dem der Film beginnt) ist eine Erinnerung. „Ich erinnere mich an das, was ich jetzt sehe. Aber der Film erinnert sich an nichts, der Film ereignet sich immer jetzt.« sagt Johan van der Keuken aus dem Off. Auch die Tonspur erinnert uns daran, dass sie nichts erinnern kann. Im Film ereignet sich immer wieder der Film, nicht die Geschichte.

Wenn Nosh van der Keuken im Gras, an einem Bach, zu dessen insistierendem Plätschern, in der Humanité über die Befreiung Griechenlands von der Militärdiktatur liest und dann für wenige Takte O-Töne einer singenden Menge hörbar werden, deren Herkunft, deren Ursprung unklar bleiben muss, die eine Art Off der Hoffnung einspielen, ist dennoch diese Verknüpfung mit der Aufmerksamkeit einer Tonfrau nicht nur konsequent, sondern gibt auch ihr einen neuen Raum.

»Essayfilme gewinnen ihren artistischen Impetus gerade aus der Kritik etablierter Erzählmuster, räumlicher Kontinuität, Chronologie oder biographischem Erzählen. Deshalb stehen diese Filme stets von neuem vor der Aufgabe, durch die Montage eine Form der Darstellung und eine Ordnung ihres Materials zu finden.« schreiben Peter Braun / Thomas Tode in ihrem Buch zum Essayfilm »Die Erneuerung des Sehens“

Van der Keuken macht dies in „Ferien eines Filmemachers“, indem er sein eigenes Archiv umstellt, umwirft, derangiert, re-arrangiert, Ähnlichkeiten entdeckt, konstruiert, erfindet und zerstört. Er bearbeitet Bild und Ton völlig unabhängig voneinander, setzt sie in Beziehung und gibt ihnen eigene Bedeutungshoheit. Der Film ist ein Ausdruck absoluter Subjektivität: »Ich schaue über die Schulter der Erde ins Licht, und das Licht bin ich selbst, unter anderen« , heißt es im letzten Satz seines Kommentars am Ende des Films, während das Bild ins Weiß, der Reflexion reinen Lichts auf der Leinwand übergeht.

Ich habe den Film, bevor ich mich auf diese Einführung vorbereitete, Jahrzehnte nicht mehr gesehen. Er blieb mir jedoch immer als ein dokumentarisch essayistisches Meisterwerk vage in Erinnerung. Präzise erinnert habe ich allerdings immer die Sequenz mit dem Briefträger.

Jene Sequenz, in deren Kern van der Keuken die Umwertung aller Beziehungen im Film situiert, schreibt Ute Holl in einer medien-theoretischen Abhandlung über den Film, beginnt mit der Ankunft des Briefträgers, der im Französischen facteur heißt, auf seinem Moped im Dorf in der Aube, wohin er jener alten Dame, die schon vorgestellt ist, die Zeitung liefert, vage Nachrichten, vom Knattern des Mopeds gestört, ein Gespräch über den vergangenen Sonntag, das Essen, das Fernsehprogramm: Ein Film über Hitler wird im Film zusammengefasst, über die Résistance und die Propaganda. Rede und Gesichter sind deutlich asynchron. Van der Keuken verfügte nicht über eine Synchrontonkamera und wollte auch nicht den Anschein erwecken, als könne Kino stets Synchronität behaupten. Der Montagecharakter von Bild und Ton wird deutlich ausgestellt. Einerseits scheint das Gespräch zwischen Postbote und Bauersfrau alltäglich und wiederholbar zu sein, andererseits gibt der Film einen bestimmten Moment zu hören und einen bestimmten anderen Moment zu sehen, wie er eben aufgezeichnet wurde und vorliegt auf Zelluloid und Tonband, gefunden unter anderen Momenten, die sich nun immer wieder »jetzt« ereignen können. Der Filmemacher spaltet sich ferienhalber in Bildspur und Tonspur, Auge und Ohr, Bolex und Nagra, und, in der Familie, auch in Mann und Frau, Johan und Nosh, unterschiedliche Aufmerksamkeiten, unterschiedliche Empfindlichkeiten, unterschiedliche Interessen, die sich aneinander brechen: »Das Licht bin ich selbst, unter anderen.« Die Stimme ein Selbst unter anderen. Am Ende jener audiovisuellen Komposition aus Geschichte, Dokument und Propaganda als Ereignis setzt im Ton Vogelgezwitscher ein, aus dem Languedoc, vielleicht, vielleicht aber auch von einem anderen Band aus van der Keukens Tonarchiv.

Wissen in den „Ferien eines Filmemachers“ ist keine Selbstgewissheit, keine Wahrheit, keine seminaristische Rechthaberei, sondern ist eine riskante Recherche nach einem unbestimmten Raum. Nach einem Raum der Erfahrung, van der Keukens Art, in der Welt zu sein.

Johan van der Keuken erlag 2001 seinem Krebsleiden.

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