Werner Herzog

Von einem, der die Schwerkraft der Erde nicht akzeptieren will

Eröffnungsrede zur Ausstellung im Filmmuseum Berlin anlässlich seines 80igsten Geburtstages.

Einführende Worte zur Eröffnung einer Werner Herzog Ausstellung hier im Filmmuseum in Berlin ist eine gewaltige Aufgabe. Wenigsten für mich. Ich spreche über jemanden, über den alles und in verschiedenen Variationen bereits gesagt, geschrieben und filmisch dokumentiert wurde. Über ein Werk, dass so gewaltig in Umfang und Qualität ist, dass man als Kollege ganz demütig wird. Über einen Mann, Künstler, Schriftsteller, Weltenerforscher und Filmemacher, der kein Limit kannte, dem keine Herausforderung zu groß war und ist, der schein-bar Unmögliches möglich machte, sich in die Abgründe menschlichen Daseins begab und lebendig wieder herauskam. Der Kultur und Natur nur aus zwei möglichen Sichtweisen be-trachtet, nämlich aus der Perspektive der Schöpfung und folgerichtig deren Ende, der Apokalypse. Der banale Realität nicht akzeptiert und das in ihr sucht, was er ekstatische Wahrheit nennt, indem er mit utopischer Vision die Banalität des Augenblicks überhöht, um sichtbar zu machen, was hinter dem offensichtlich Unabänderlichen liegt. Der gar das 20. Jahrhundert insgesamt für einen Fehler hält.

Sie sehen meine Damen und Herren, wirklich keine leichte Aufgabe.

In Deutschland kennen ihn die meisten aus seiner frühen Zeit mit den genialischen und grandiosen Filmen mit seinem liebsten Feind Klaus Kinski, als ein Vertreter und gleichzeitig auch Grenzgänger des Neuen deutschen Films, dem Fassbinder, Schlöndorff, Wenders, Schröter, Kluge und auch der kürzlich verstorbene Klaus Lemke angehörten. Filme von ihm wie Aguirre der Zorn Gottes (1972), Nosferatu – Phantom der Nacht (1979), Fitzcarraldo (1982) sind in Erinnerungen geblieben. Er selbst ist in diesem Land oft geschmäht worden, in den 1970igern Jahren als faschistoid gebrandmarkt und dann von einer nachfolgenden Generation fast vergessen. Vergessen auch sein gewaltiges dokumentarisches Werk, das hierzu-lande kaum wahrgenommen wurde und wird, von den hier Anwesenden einmal abgesehen. In Amerika jedoch, wo Werner Herzog lebt, ist er als deutscher Filmkünstler berühmter als sein Kollege Wim Wenders, der ja nun seine Karriere mit Filmen aus jenem Land der schein-bar unbegrenzten Möglichkeiten begann. Ich erinnere an Filme wie Alice in den Städten (1974), Der amerikanische Freund (1977) oder Paris, Texas (1984). Aber das war nicht immer so.

Diese neue Aufmerksamkeit für Herzog wiederbelebte sich mit einem dokumentarischen Film, Grizzly Man (2005), der in Deutschland nicht in die Kinos kam, in den USA aber 10 Millionen Dollar Einspielergebnis an der Kinokasse hatte. Dies will ich nun zum Anlass nehmen, ein wenig über seine weit über 50 dokumentarischen Filme umfassendes Oeuvre und seinen damit verbunden unverwechselbaren Stil zu sprechen.

Im Spiegel habe ich diese vergangene Woche gelesen, er möchte liebe einer Hornisse sein, als eine Fliege an der Wand. Dies Vergleich bezieht sich auf seine in Minneapolis, Minnesota 1999 gehaltene Erklärung: Faktum und Wahrheit im Dokumentarfilm, sein Manifest gegen eine dokumentarische Haltung, die sich Cinema Verité nennt und das reine Beobachten propagiert. Paragraph 1 des Manifests lautet: Kraft dieser Erklärung wird dem sogenannten Cinéma Vérité die vérité, die Wahrheit, abgesprochen. Erreicht wird bloß eine oberflächliche Wahrheit: die Wahrheit der Buchhalter.

Als Autor sich unsichtbar machen, wie eine Fliege an der Wand, nicht einzugreifen, in das, was man filmt, ist ihm nicht einsichtig. Im Film liegt Wahrheit tiefer und es gibt so etwas wie poetische, eine ekstatische Wahrheit, wie Herzog es nennt. Sie ist geheimnisvoll und schwer greifbar, man kommt ihr nur durch Dichtung, Erfindung, Stilisierung bei. Es sei ein Irrtum, dass man als Autor eines Films gänzliche verschwinden solle, das würde die Überwachungskameras in Bankfilialen sonst zum Idealfall des Filmschaffens erklären – und das ist absurd. Dann doch lieber eine Hornisse sein, die zusticht.

Keine puristische Auffassung also von Dokumentarfilm, sondern Herzog outet sich hier als ein Freund von unmerklichen Inszenierungen, von visionären und fantastischen Überhöhungen, um bestimmte Prozesse zu verdichten, Wahrheiten kenntlich und sichtbar zu machen, denen er sich zuwendet. Eine aufrichtige künstlerische Strategie, die seine Dokumentarfilme zu unverwechselbaren Werner Herzog Filmen macht.

Dazu gehört auch seine unnachahmliche Art zu sprechen, seine Interviews zu führen, den Kommentar einzusprechen, der meist einem eigenen Erkenntnisinteresse folgt und nicht wie sonst üblich in Dokumentationen des Fernsehens, nur das Gesehene, auf der Bildebene bereits abgebildete, kommentierend verdoppelt.

An der HFBK, einer Kunsthochschule in Hamburg, an der ich als Professor lehrte, bot ich ein Semester lang ein Seminar zu den Dokumentarfilmen von Werner Herzog an. Als ersten Film sahen wir Lektionen in Finsternis (1991/92), als er nach dem Golfkrieg in Kuweit die brennenden Ölquellen filmte. Aufnahmen im Gegenlicht lies die Feuerwehrleute wie Aliens aus einem anderen Universum erscheinen, apokalyptische Szenarien einer verwüsteten Landschaft. Keine Menschen waren dort, sondern Wesen von einem fremden Planeten, wie der Kommentar eindrücklich suggerierte. Herzog verstand diesen Film nicht faktenanalytisch, sondern als eine stilisierte Vision der Welt nach dem Armageddon. Meine Studierenden waren tief beeindruckt und störten sich nur an der Stimme Herzogs, dessen Englisch mit bayrischer Konnotation. Am Ende des Semesters und ungefähr 15 dokumentarischen Herzogfilmen sahen wir einen, in dem Herzog das Off nicht selbst sprach und alle waren sich unisono einig, dass dies kein „echter“ Herzog Film sei. So prägend war und ist die stilisierte Form sei-ner Arbeiten, seine suggestiv rauchige Stimme und die Tonlage seiner Texte.

Auf eine Weise schockiert über den Mut waren wir im Seminar, als wir La Soufrière (1976) schauten. Ein Vulkan auf der Karibikinsel Guadeloupe zeigte alle Anzeichen eines bevorstehenden Ausbruchs, der von Experten als „unausweichliche Katastrophe“ vorausgesagt wurde. Die gesamte Insel wurde evakuiert – nur Herzog und sein Kameramann gingen in die Gegenrichtung. Sie wollten zum Vulkan, um seinen Ausbruch zu drehen. Ein Spiel mit dem Tod.

Sie filmten evakuierte Städte, dokumentierten menschenleere Straßen und Häuser, nur von verlassen Nutztieren bevölkert, näherten sich so weit wie möglich zu Fuß der Gefahrenquelle. In der Nähe des Vulkans treffen sie auf zwei Menschen, die sich geweigert hatten zu fliehen. Sie blieben, um zu sterben. Und schon ist Herzog wieder im „Herzen der Finsternis“, dem Lieblingstopos seines dokumentarischen Schaffens: was kommt nach dem Tod, nach dem Ende der Zivilisation, nach dem finalen Aus unseres Planeten. Was war davor, wie hat alles begonnen? Schöpfung und Apokalypse eben.

Schon Jahre zuvor (1968 bis 1971) hat er mit Fata Morgana ein fantastisch-poetisches Filmessay gedreht, in dem er das gedrehte Bildmaterial zu einer irritierenden Vision einer sinn-entleerten Welt verdichtete. In drei Kapiteln – Schöpfung, Paradies, Goldenes Zeitalter - entfaltet sich eine Menschheitsgeschichte, die von Zerfall, Zerstörung und Scheitern bestimmt ist. In endlosen Fahrten sieht man Flugzeugracks in der Wüste, verlassene Dörfer und ausgetrocknete Tierkadaver erscheinen wie Relikte einer bereits untergegangenen Zivilisation. Lange Brennweite erzeugen Luftspiegelung unter der heißen Sonne Afrikas, Schemen tanzen in der Unschärfe der flirrenden Luft. Endzeit Stimmung in trostlosen Bildern des Verwesens, des Mülls, der Einsamkeit, getragen von einem poetischen Kommentar, der sich nicht auf eine Bedeutung festlegt, sondern um eine zuweilen skeptisch-ironische Dimension erweitert. Das klingt dann im zweiten Kapitel “Paradies“, unter Bildern von verlassenen Wüstendörfern, dann so:

“ Im Paradies ruft man schon Hallo, ohne jemand zu sehen. Dort streitet man sich schon mit Fremden, um keine Freunde haben zu müssen. Im Paradis kommen die Menschen schon tot auf die Welt.“

Schon der Anfang des Films – 7-mal landet ein anderes Flugzeug in derselben Einstellung auf einem Flughafen, muss man als Zuschauer überstehen. Zuerst denkt man an einen Fehler, dann beginnt man die Flugzeugtypen zu unterscheiden, man achtet auf die Anzahl der Vögel im Vordergrund, auf den Landungsprozess als solchen – dann plötzlich Schnitt, wir sind in der Wüste, der Film beginnt. Die Zuschauer, die den Anfang aushalten, so Herzog, werden dann auch den Film bis zu Ende anschauen.

Wie er sich seine unverwechselbare Handschrift über die diversesten Stoffe und Zugänge legt, sah man bereits in seinen ersten dokumentarischen Arbeiten wie Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971), als er Fini Staubinger kennen lernt, eine 56-jährige taubblinde Frau mit erstaunlich positiver Einstellung zum Leben und der Ausstrahlung „radikaler Menschenwürde“. Für manche bis heute Herzogs stärkster Film. Oder Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner (1974). Ein wichtiger Film für Herzog, der in unmittelbarer Nähe zu einer Sprungschanze aufgewachsen ist und als Kind unbedingt Weltmeister im Skifliegen werden wollte (er gab diesen Traum erst auf, als sein bester Freund schwer gestürzt war) und hier, vor der Kamera, aus der Position eines Sportreporters in seiner unvergleichlichen Art eine Reflektion über den menschlichen Wunsch zu fliegen macht und über die existenzielle Erfahrung dessen vorübergehender Erfüllung. Ohne Träume und Visionen geht es nicht, sagt er. „Die ganzen Sauereien des Lebens sind nur dann ertrag-bar, wenn man solche Begleiter hat. Das Kino ist ein solcher Begleiter und im Skiflieger Steiner hatte Herzog jemand gefunden, der all das physisch lebte, was sonst nur in seinen Träumen stattfand.

Aber wenden wir uns einem anderen Schwerpunkt seines dokumentarischen Schaffens zu: das Gehen und das Bergsteigen. Dem letzteren zugeordnet ist Gasherbrum – Der leuchtende Berg (1985), in dem er Reinhold Messner bis ins Basislager des Achttausenders auf 5000 Meter folgt und ihn befragt. Und das Befragen der anderen ist bei Herzog immer auch ein Be-fragen seiner selbst. Oder Schrei aus Stein (1991), den er am Cerro Torre im Süden Patagoniens inszenierte, bei dem er sich an den am schwierigsten zu besteigenden Berg der Welt zuwendet, dessen Erstbesteigung bis heute mythisch umrankt ist und diverse Legenden frei-setzt. Nun war es an ihm, eine neue Version diesem Mythos hinzuzufügen.

Denn faktenbezogene (Norm)Realitäten interessieren Herzog nicht. „Die Erdenschwere geht mir auf den Geist“, hat er einmal gesagt, „ich will mich dagegen auflehnen, auch wenn ich daran scheitern werde“. Und das Bewegen ist ihm existenziell. Vom Gehen im Eis, dem Tagebuch einer Reise, die ihn zu Fuß von München nach Paris geführt hat, um dort die schwer-kranke Lotte Eisner aufzusuchen und ihr durch sein Gehen das Leben zu retten, lesen wir davon. Tourismus ist Sünde, zu Fuß reisen Tugend, hat er bereits in seinem Minnesota Manifest festgeschrieben. Das Kino befreit den Menschen aus seiner geschichtlichen Bedingtheit und ist in diesem Sinne, wie eben das Gehen, unzeitgemäß, lehnt sich gegen die Linearität von Geschichte auf, sagt Herzog. So gesehen lässt sich das Filmemachen nicht als Beruf be-schreiben, sondern vielmehr als eine Art, sich durch das Leben zu bewegen.

Über den eingangs erwähnten Grizzly Man, ein Film über Timothy Treadwell, einen jungen amerikanischen Aussteiger, der 13 Jahre lang jedes Jahr in die Einsamkeit Alaskas zurück-kehrte und dort die Gesellschaft von Bären suchte, bis er und seine Begleiterin im Oktober 2003 von einem Grizzly getötet und zum Teil gefressen werden, will ich mich den amerikanischen Filmen zuwenden.

Aus über hundert Stunden von Treadwell gedrehten Videomaterial wählte Herzog für Grizzly Man sorgsam einige wenige aus. An dem nur im Ton festgehaltenen Todeskampf lässt Her-zog sein Publikum nicht teilnehmen. Aber wir sehen sein Gesicht beim Abhören des Bandes – und wie so oft, ist das nicht Gesehene grausamer, als wenn er es uns hätte hören lassen. Ein aus „found footage“ und selbstgedrehten Material montierter eindrucksvoller Film, der Her-zog, fast vergessen, wieder ins öffentliche Interesse katapultierte.

In seinen folgenden Dokumentarfilmen Into the Abyss (2011) und die anschließende TV Mini Serie Death Row (2012) führt Herzog Interviews mit zum Tode verurteilten MörderInnen. Was ihn dabei interessierte, ist nicht die Darstellung von Monster („Es gibt keine Monster, nur Menschen“), sondern die radikal eingeschränkte Wahrnehmung der Todeszelleninsassen. Sie leben in Zellen von fünfeinhalb Quadratmetern, deren Fensterscheiben durch Dreck undurchsichtig geworden sind, haben keinen Kontakt zur Außenwelt, noch Zugang zu Fern-sehen oder Internet. Dafür kennen sie den Zeitpunkt ihres Todes. Herzog fragt nach den Auswirkungen dieser Beschränkungen, nach ihrer subjektiven Zeiterfahrung, ihrer Sehnsucht nach trivialen Alltagsdingen. So gesehen fügen sich auch diese Interviews in den Kosmos der „Werner Welt“, wie manche das filmische Oeuvre von Herzog nennen.

Ich will feststellend damit enden, dass dieses dokumentarische Oeuvre sicher nicht dem klassischen Erzählkino zugeordnet werden kann. Dafür erfindet, entdeckt, assoziiert und interpretiert er Realitäten, dekontextualisiert er Figuren und Bilder aus ihrer historischen oder moralischen Rahmung, reduziert komplexe Kontexte auf die reine menschliche Erfahrungsebene (David Assmann) und lässt den Zuschauer nachhaltig mit neuem Blick auf die Welt schauen.

Auch wenn ich nur an wenigen Beispielen seine dokumentarische Methodik, sein Verhältnis zur Welt skizzieren konnte, hoffe ich, ihr Interesse an seinem umfangreichen dokumentarischen Schaffen geweckt zu haben. (Falls es nicht sowieso da war. In diesem Fall hoffe ich, sie nicht gelangweilt zu haben.)

Überzeugen sie sich nun selbst, indem sie sich in dieser Ausstellung in die „Werner Herzog Welt“ begeben und vielleicht verändert das erneute Sehen seiner Filme auch ihre Sicht auf das, was wir Normalität oder normative Faktenwelt nennen.

Ich bedanke mich fürs Zuhören.

Pepe Danquart, August 2022

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